Der Zahlungsabwickler Wirecard hat in der Nacht abermals Unklarheiten in seiner Bilanz 2019 eingeräumt und deutlich gemacht, dass er sich in der Angelegenheit als Geschädigter sieht. Wirecard-Vorstandschef Markus Braun erklärte in einem auf der Homepage veröffentlichten Videostatement: „Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirecard AG in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist.” Eigentlich sollte Wirecard am 18. Juni die mehrfach verschobene Veröffentlichung des Jahresabschlusses nachholen. Daraus wurde nichts, denn für das Testat, das die Wirtschaftsprüfer dem Abschluss vor der Veröffentlichung hätten geben müssen, fehlten entscheidende Belege. Knackpunkt sind Bankguthaben über 1,9 Milliarden Euro, was einem Viertel der Bilanzsumme des Konzerns entspricht.
„Wir sind von unserem Abschlussprüfer EY in Deutschland darüber informiert worden, dass ein Bestätigungsvermerk für den Jahresabschluss 2019 aufgrund unberechtigter Bankbestätigungen weitere Prüfungshandlungen erfordert”, sagte Braun in dem Video. Dies sei auf Mitteilungen von zwei Banken, die Treuhandkonten verwalten, an EY zurückzuführen.
Kurz nach Mittag teilte das Unternehmen mit, dass Konzernchef Markus Braun im Einvernehmen mit sofortiger Wirkung als Mitglied des Vorstands zurücktritt. James Freis wird einzelvertretungsberechtigter Interims-CEO. Der Aktienkurs von Wirecard hat kaum auf den Rücktritt reagiert.
Falsche Saldenbestätigungen
„Laut EY gibt es Hinweise darauf, dass den Wirtschaftsprüfern von einem Treuhänder oder aus dem Bereich dieser Banken zu betrügerischen Zwecken falsche Saldenbestätigungen vorgelegt wurden”, so Braun weiter. „Der Treuhänder, der seit 2019 mandatiert ist, steht im ständigen Kontakt mit den Banken und der Wirecard AG. Es ist derzeit unklar, warum die beiden Banken den Wirtschaftsprüfern gegenüber erklärt haben, dass die Bestätigungen gefälscht sind. Der Treuhänder hat der Wirecard AG angekündigt, dass er den Sachverhalt kurzfristig mit den beiden Banken klären wird”, sagte Braun weiter.
Die Anleger hatten am Donnerstag ein vernichtendes Urteil über Wirecard gefällt und der Aktie des DAX-Konzerns am Donnerstag einen beispiellosen Einbruch von über 60 Prozent beschert. Die Folge: Immer mehr Anleger stehen in den Startlöchern für Klagen gegen Wirecard. Wirecard droht der Verlust von Milliardenkrediten. Wenn das Unternehmen heute keinen von Wirtschaftsprüfern testierten Jahres- und Konzernabschluss vorlegt, könnten Kredite von etwa zwei Milliarden Euro gekündigt werden. Experten zweifeln allerdings, dass die Kreditgeber so einfach den Stecker ziehen würden, da dies auch Belastungen für andere Banken zur Folge haben könnte.
Wirecard wickelt bargeldlose Zahlungen für Händler ab, sowohl an Ladenkassen als auch online. Das Unternehmen ist seit über einem Jahr in Bedrängnis, seit die Londoner „Financial Times” dem Management in einer Serie von Artikeln Bilanzmanipulationen vorwarf.
Update um 13:27 Uhr: Rücktritt von Wirecard-Chef Braun ergänzt